Von Marokko auf die Schwäbische Alb
Albstadt/Sigmaringen. Die Geschichte ist so unglaublich wie wahr: Im Frühjahr 2012 möchte der Marokkaner Abdelbary Bokkour in der Landeshauptstadt Rabat seine Deutschkenntnisse verbessern und sucht einen Partner zum Sprechen üben. Nach dem Zufallsprinzip schickt er Myriam Kähler aus Allensbach eine Freundschaftsanfrage bei Facebook, sie nimmt an. Sechs Jahre später schließt der heute 28-Jährige sein Bachelorstudium an der Hochschule Albstadt-Sigmaringen ab und wird mit dem DAAD-Preis für hervorragende Leistungen ausländischer Studierender ausgezeichnet. Der Wirtschaftsinformatiker arbeitet heute beim Werkzeughersteller Gühring in Albstadt im Bereich Entwicklung und Prozessoptimierung und macht parallel dazu seinen Master in Business Analytics an der Hochschule.
„Die Idee, nach Deutschland auszuwandern, war wie ein Funke in mir“, sagt Abdelbary Bokkour. „Leider waren die Studien- und Lebensbedingungen in Marokko nicht ganz optimal.“ So gebe es dort etwa Wirtschaftsinformatik nicht in der Form wie in Deutschland, „aber ich sehe genau darin die Antworten auf die Fragen, wie wir uns künftig in der digitalen Welt bewegen“. Die Studienbedingungen und anschließenden Erfolgschancen in Deutschland „sind für junge motivierte Studierende sehr attraktiv“.
Dass Abdelbary Bokkour überhaupt studieren kann, grenzt schon fast an ein Wunder. Er wächst in einem kleinen Dorf auf, in dem es zunächst überhaupt keine Schule gibt. Als 1996 die erste Grundschule eröffnet, ist er gerade sechs Jahre alt und kann sie als eines von lediglich zwölf Kindern besuchen. Doch nach der Grundschule geht es nicht weiter, eine weiterführende Schule ist nicht in der Nähe; der Vater schickt Abdelbary und dessen großen Bruder deshalb allein in die Stadt. Sie besuchen das Gymnasium, 2008 macht Abdelbary dort sein wirtschaftliches Abitur, anschließend an der Universität einen Bachelor in Betriebswirtschaftslehre. Bereits zu diesem Zeitpunkt hat er den festen Willen, sich eine Zukunft in Deutschland aufzubauen.
Abdelbary Bokkour ist zielstrebig. Er informiert sich über die Voraussetzungen für ein Studium in Deutschland, macht am Goethe-Institut einen Deutsch-Intensivkurs. Seine Lehrerin rät ihm, sich zur Festigung seiner Sprachkenntnisse einen Sprechpartner zu suchen – Myriam Kähler aus Allensbach kommt ins Spiel. „Die ganze Geschichte ist magisch“, sagt sie. Natürlich erstaunt sie die Freundschaftsanfrage dieses wildfremden jungen Mannes bei Facebook, doch sie ist neugierig und willigt ein. „Wir haben angefangen zu schreiben, monatelang ging das so.“ Zuvorkommend und höflich sei er gewesen, „und zur Gebetszeit hat er das Gespräch immer kurz unterbrochen“, sagt Myriam Kähler. „Das hat mir irgendwie imponiert.“
Er bittet nie um Hilfe, im Gegenteil. Wenn Myriam Kähler ihre anbietet, reagiert er eher zögerlich. Als er für die Bewerbung um einen Studienplatz in Deutschland einen Bürgen braucht, überlegt sie gar nicht. „Es war für mich selbstverständlich, dass ich das mache.“ Für sie ist er da längst schon „mein Bub“.
Myriam Kähler und ihr Mann Helmut haben zwei eigene erwachsene Kinder, „und jetzt haben wir eben drei“, sagen sie. Abdelbary Bokkours Frau Rajae, die seit einem Jahr ebenfalls in Albstadt lebt, „ist unsere Schwiegertochter“.
Kählers unterstützen Abdelbary Bokkour in Deutschland, wo sie nur können, helfen bei Behördengängen und dabei, die deutsche Bürokratie zu durchdringen. Um sich sein Studium selbst zu finanzieren, arbeitet der junge Marokkaner in einem Supermarkt. 2016 steigt er durch einen glücklichen Zufall bei Gühring ein: Einer von zwei Studierenden, die in ihrem Praxissemester eine Projektarbeit in dem Unternehmen machen wollten, sagt ab. „Der andere hat uns dann Abdelbary empfohlen“, sagt Manfred Koch, Abteilungsleiter für den Bereich CAD/CAM-Entwicklung und Prozessoptimierung bei Gühring. „Im Nachhinein müssen wir sagen: Es hätte nicht besser laufen können.“
In der Firma ist man beeindruckt von Abdelbary Bokkours Zielstrebigkeit und Leistungsbereitschaft. „Er hat sich teilweise in völlig fremde Bereiche wie Statik oder Kinematik einarbeiten müssen“, sagt Manfred Koch. „Und er hat sich durchgebissen.“ Um ihn zu unterstützen, beteiligt sich das Unternehmen an seinen Studiengebühren – die fallen an, weil er Nicht-EU-Ausländer ist.
Und die deutsche Kultur? „Mit der hatte ich noch nie Probleme, ich fühle mich gar nicht fremd“, sagt Abdelbary Bokkour. Aber man müsse sich natürlich anstrengen und vor allem anpassen. Das ist ihm so gut gelungen, dass er sogar die doppelte Staatsbürgerschaft annehmen möchte.