Warum ein schwach ausgeprägter Geschmackssinn zu Übergewicht führen kann
Albstadt/Sigmaringen. Gibt es Unterschiede im Geschmacksempfinden zwischen adipösen und normalgewichtigen Menschen? Könnte ein schwächer ausgeprägter Geschmackssinn Übergewicht begünstigen? Mit diesen Fragen hat sich Kim Baumann für ihre Bachelorarbeit an der Hochschule Albstadt-Sigmaringen befasst. Sie studiert Lebensmittel, Ernährung, Hygiene und wurde von Prof. Dr. Andrea Maier-Nöth betreut.
„Adipositas entsteht in der Hauptsache durch eine übermäßige Zufuhr kalorienreicher Nahrung bei gleichzeitigem Bewegungsmangel“, sagt sie. Doch damit nicht genug: Studien hätten gezeigt, dass Fettleibigkeit den Stoffwechsel schwächt und den Erneuerungsprozess unserer Geschmacksknospen reduziert. „So fällt es adipösen Menschen oft schwerer, einen Geschmack und dessen Intensität zu erkennen und zu bewerten – insbesondere bei Zucker und Fett ist das ein Problem.“
Für ihre Studie, die sie an der Kurpark-Klinik in Überlingen am Bodensee durchgeführt hat, rekrutierte Kim Baumann je 16 normalgewichtige und adipöse Probanden im Alter von 25 bis 51 Jahren, die jeweils vier verschiedene Geschmackstests absolvierten. „Ein erster Test zeigte, dass die adipösen Menschen die Grundgeschmacksarten süß, sauer, salzig, bitter und Umami schlechter erkennen und zuordnen können“, sagt Andrea Maier-Nöth. Die Normalgewichtigen erzielten im Schnitt über 10 Prozent mehr korrekte Ergebnisse.
In weiteren Tests wurde die Empfindlichkeit der Probanden gegenüber Süßem und Fettigem überprüft, da beides aufgrund des hohen Kaloriengehalts die Energiezufuhr maßgeblich beeinflusst. Hierbei zeigte sich, dass die Adipösen sehr viel schlechter in der Lage waren, zwei verschiedene Süßegrade zu unterscheiden: 69 Prozent erkannten gar keinen Unterschied, während es bei den Normalgewichtigen nur 25 Prozent waren. „Diese Ergebnisse zeigen sehr deutlich, dass die adipösen Probanden tatsächlich weniger empfindlich für süßen Geschmack sind“, sagt Kim Baumann. Ganz ähnlich fielen die Ergebnisse beim Unterscheiden verschiedener Fettgehalte aus, wenn auch nicht ganz so deutlich.
Darüber hinaus bewerteten die adipösen Probanden bei einem Test mit unterschiedlichen Fruchtjoghurts den ohne Zucker am schlechtesten – ganz im Gegensatz zu den Normalgewichtigen. Bei den gesüßten Proben zeigte sich ein gegenteiliges Ergebnis: „Diese erhielten von den Adipösen durchgehend bessere Bewertungen als von den Normalgewichtigen“, berichtet Andrea Maier-Nöth. Daraus schloss das Forscherteam, dass adipöse Menschen generell eine größere Vorliebe für Süßes aufweisen und stärkere Süßegrade bevorzugen als Normalgewichtige.
Diejenigen, die zwei unterschiedlich süße Proben gar nicht unterscheiden konnten, bevorzugten zugleich stärker gesüßte Proben. Bei den Normalgewichtigen konnte ein solcher Zusammenhang nicht festgestellt werden.
„Insgesamt konnten die normalgewichtigen bei allen durchgeführten Tests durchweg bessere Ergebnisse erzielen als die adipösen Probanden“, sagt Andrea Maier-Nöth. Daraus lasse sich ableiten, dass Letztere die Grundgeschmacksarten schlechter identifizieren können, eine unempfindlichere Wahrnehmung von süßem Geschmack haben und süßere Lebensmittel im Vergleich zu Normalgewichtigen bevorzugen.
Einen möglichen therapeutischen Ansatz sieht die Professorin in einem bewussten Geschmackstraining, kombiniert mit nachhaltiger Gewichtsreduktion. Ein Einstieg könnte beispielsweise Heilfasten nach Buchinger und Lützner sein, sagt Gabriele Wagner, die zweite Betreuerin des Projekts und Leiterin der Abteilung Ernährungsberatung und Gesundheitstraining in der Kurpark-Klinik in Überlingen. Dieses kurzfristige „Nichtessen“ würde unter anderem helfen, die Geschmacksknospen zu sensibilisieren und könne übergewichtige Menschen dabei unterstützen, ihr natürliches Geschmacksempfinden wiederzuerlangen.